Elegien
Benjamin Stein
2026

O fairer than aught else

The world can show, leave off in time to grieve.

Enough, enough, your joyful looks excels.

John Dowland: »I saw my Lady weep«
The Second Book of Songs
?

1

Ich habe als Kind eine Krone getragen,
golden, glänzend und schwer –
unbändig, wild, Wipfel und Mähne,
ein Schopf, in dem Turmsegler hausten.

Wann immer sie aufstiegen, reckte ich mich,
den Kopf im Nacken, mit offenem Mund,
und folgte gebannt dem gelassenen Gleiten.

Kapriolen und Sturzflüge sah ich.
Stürmten sie nicht
vom Himmel direkt in mein Haar?
Ich teilte mit ihnen Auge und Herz
und das Stehen im Wind,
tollkühn, die Welt, wie sie schrumpft
und sich weitet beim Aufstieg.
Mal schrill und ekstatisch,
mal leiser mit müdrauher Stimme
sprach ich mit ihnen: zrii-zrii.

Ich lernte von ihnen die seltsamsten Worte
wie Weite und grenzenlos,
die man im Haus nicht verstand.
Ich war, der mit Vögeln spricht
und sich nicht fügt,
punching ball, puncher,
das schwierige Kind,
das mittags nicht schlief
und das abends nicht schlief,
wenn Sommerlicht noch über Stunden
im Bett Langeweile beschien,
während im Nebenraum, endlich erlöst,
die Eltern ihr Leben besprachen.

Vorhänge waren den Nachbarn verdächtig,
der Träumer den Kindern im Hof.
Der wollte fliegen, die Arme ausbreiten,
als wollten ihn alle umarmen,
und schlug dabei mit Kükenflügeln
zum allgemeinen Gespött.
Spießrutenrufen: Da ist der Freak!
Sie feixten und warfen, was Ältere dachten,
dem anderen kalt ins Gesicht.

Ich habe mit einem Gewehr aus Luft
auf sie alle gezielt und geschossen.
Sie lachten nur, winkten und riefen mir zu:
Wir werden dich schon erwischen!

Ich rannte und floh auf den obersten Ast
der Kastanie vor unserem Haus.
Dort saß ich im Bannkreis aus Blättern und rief
aus dem Traumnest die Vögel hervor.
Ich wollte so hoch, wie sie flogen, hinaus
und die Spötter von oben richten
und jubeln, wenn sie dann, ameisenklein,
auf meinem Weg in die anderen Welten
aus meinem Blickfeld verschwinden.

Als unsere Mutter den Sonnenschopf sah,
die Pomelo im Grün eines deutschen Baums,
klang ihr Schrei wie der Turmsegler Schrei –
als wäre das Schrecklichste längst schon geschehen,
ihr Leben mit meinem zu Ende.

Kleinmütig, mir nicht zu trauen.
Auch sie sah die Flügel nicht.

Geübt hatte ich in den Nächten,
wenn niemand mir zusah – im Traum
lösten sich eher die Füße vom Boden.
Wenn es gelang, mit Mühe und
nur für Sekunden, zogen mich doch
die Mutterhände wieder hinab.
Uns beide konnte ich unmöglich tragen.

So ist es lange geblieben, nicht wahr?
Ich stahl mich aus Fremdheit zu Fremden,
in andere Straßen und Städte,
die Leine der Kindheit gespannt.

Und immer den Blick nach hinten gewandt …

Nach innen sprechen, nach außen schweigen –
das hat uns um Leben gebracht.

Wir saßen noch einmal unter Kastanien.
Ich hatte mit Mühe ihr schweres Bett
vom Hospiz in den Garten geschoben.
Die Enkel tollten. Sie lächelte müd.
Herbstsonne brach durch das wippende Laub
und tanzte in Flecken von Bernstein-Licht
auf dem Kissen und ihrem Gesicht.

Erinnerst du dich an den Tag,

fragte sie,

als du oben im Baum hingst?

Oh – ja.

Der leichteste Luftzug,

meinte sie,

hätte dich pflücken können …

Der Turmsegler war eine Bäckerstochter.
Wer hätte das gedacht?
Wo ich einmal saß,
habe ich zu ihr gesagt,
wird man mich nie wieder finden.

In der Nacht, als sie starb,
schlief ich leicht und stieg
schwerelos auf,
und niemand hielt meine Hände.

2

Langsam verlässt mich das Deutsche,
die Vaterlandssprache, ihr Mutterton.
Schlapp klappt die Zunge tief in die Kehle.
Die purpurne Schnur würgt im Hals.

Über den Berg ist die Liebste gezogen …

und tändelt mit andern am Bahnhof.
Im Wartesaal hofft sie auf Zuspruch von Männern
und anderen untreuen Tieren.

Wenn ich gedächte der heimlichen Nächte,

sporadisch durchschauert von Meteoriten,
wenn ich den Kopf höbe, aufschaute,

kehrte sie dann nicht zurück?

Ein Leuchten erhellte uns, als wir erwachten.
Wir liefen auf Federstrichbrücken zum Mond.
Offen und hoch hingen Himmel im Dutzend.
Pfirsiche pflückten wir lässig im Flug
von einem Sommer zum nächsten.
Da dehnten sich Tage, als wären sie endlos,
und alles in Worte zu fassen,
schien möglich mit Blick auf das Meer.

Derwische wollten wir sein,
trancetrunken wirbelnd im Tanz.
Unter uns kreiste der Boden.
Wir hielten nur an ihm fest,
faustgroße Klumpen von Ton in den Händen des Töpfers.
Die Röcke gebauscht und durchs Feuer getragen,
Glocke werden und schwingen
mit Armen und Beinen wie Klöppel
für den gewaltigen Klang.

Warum fiel es dann schwer,
etwas Wahres zu sagen?

Winter bringt kürzere Tage.
Wie viele davon hat ein Jahr –
dieses, das nächste –
wenn man auf Seen schaut,
Weiher und Pfützen,
kein bisschen weise?

Irgendwann musste die Leichtigkeit enden,
die Freizügigkeit ohne Maß.
Meteoriten sind auch nur Verirrte,
fallende Brocken Gesteins, die sich
hingeben, aufgehen in der Berührung und
glühen, um kurz darauf nicht mehr zu sein.
Was uns da aufschien, war eines anderen Tod.

Es war alles gelogen, im Brustton,
die ganze Idylle, der Derwisch-Tanz,
Táj auf dem Kopf, eine konische Stele,
der imaginierte Grabstein fürs Ich.

Weniger wolltest du doch nicht sein
als König im eigenen Reich.

Wir steckten den Kopf in die Wolken
und redeten lange und innig mit Gott,
als brauchte er uns wie wir ihn.
Wir stützten das alte Gebäude mit Säulen,
dass es nur halte, uns nicht begrabe
mit Kindern im Arm, die nichts ahnten
von unserer Armut und Schwäche.

Geht es nicht Gott mit uns ähnlich?
Nicht zweimal, nicht viermal, unzählige Male
scheitern und scheitern und noch einmal scheitern
mit einer Träne im abgewandten Gesicht.

Erst sah ich haarfeine Risse, die aufschwollen,
platzende Adern, Stigmata, Blut, ein
bleiches Gesicht, auf die berstenden Säulen
geworfene Licht-Projektion:

Gezählt – Gewogen – Geteilt

Noch einmal dehnte sich Zeit unermesslich.
Ziegel und Schutt
schwebten herab aus der Höhe wie Federn,
bevor sie uns trafen in völliger Stille.
Weder Propheten noch ewige Bücher –

Stille.

Kein Himmel hängt mehr zwischen uns und dem Nichts.
Der Vater ist tot, den wir hatten.
Die Mutter in uns siecht dahin.
Nichts ist geblieben vom Haus als die Westwand.
Heimkehren können wir nicht.

3

Aus der Gewissheit gefallen,
neigt sich schon morgens der Kopf
über das kaltweiße Licht der Displays.
Panik springt uns aus den Nachrichten an:
Schüsse von Kindern auf Kinder,
Kursstände und Horoskop.
Kein Trost im Tarot.
Auf dem Tisch liegen Wagen und Tod:
Kartenorakel mit Werbung.

Ach reisen!

Lapis und Gold locken dich an.
Du sinkst in Hypnose.

Ist das nicht Babylons Tor?

Dort kreist ein Adler und späht aus der Höhe nach Beute.
Da schleicht durch hüfthohes Gras eine Löwin zur Jagd.
Widder grasen am Euphrat.
Aus deinem Schuh kriecht ein roter Skorpion.
Kaum zu erkennen: die schlafende Schlange im Sand.
In der flirrenden Luft fließen die Bilder,
Jäger und Beute, in eins:
Drachenleu, Adlerskorpion,
schuppig, mit Fängen des Greifs,
Tatzen vom Löwen und Hörnern, die,
Lanzen gleich, aus einem Schlangenkopf ragen.

Folge mir!

fordert Mušḫuššu in Dutzenden Sprachen
und zieht dich hinein in die Stadt.

Jeder persönliche Gott hat hier seinen eigenen Hain.
Gegen Entblößung ist alles zu haben, was einlullt.
Du lässt dich füttern mit Traumnektar, Lügen und Ulk,
Gedankenfilz, Unrat aus allerlei Häusern,
eigens für dich brikoliert,
täglich vom Gleichen noch mehr.
Bis es gelernt ist: Die Erde ist flach, eine Scheibe!
Und wenn dich doch noch der Zweifel befällt,
stürzt du schon über den Rand.

Jeden Tag Grund, wen zu töten.
Kaum noch geht anderes andern
anders ans Herz als mit Messern.
Nur Unterdrückung macht frei.
Allerseits rufen die Werber
neue Rekruten zum Kampf.
Ausweisen, ausschalten, ausmerzen –

Down with the Bloody Big Head!

Unsicher lauern am Wegrand
mit blauem Kelch lügende Lilien:
Gut gebrüllt, teurer Danton!
Jedem sein eignes Schafott.

Dir fährt eine Herbstbö jäh in die Knochen
und peitscht, als gälte es Glas zu spalten,
aus deiner hohen Krone das Laub.

So viele Könige ohne Land!

Wenn die Stürme sich legen,
taumeln die Blätter zum Grund,
fahl, weiß, papierene Laken
und stopfen den Schwätzern den Mund.

Wie uns die Karten auch fallen,
wir fallen der fallenden Klinge nach.
Köpfe, in Nebelmaschinen gespannt,
kippen von Körpern und rollen herab,
prallen dumpf in Körbe, auf Sand.

Wir wissen ja nicht, was wahr ist,

sagst du.
Wir können nur sagen,
was zählt.

4

Auch ein grausamer Monat, Oktober:
Unter den Aschegestalten im Herbst
streunen Engel und Djinn.
Sollte ich denn,
wenn mit Menschen kein Reden mehr ist,
einen von Jenen beschwören,
von denen man weiß,
dass sie erbarmungslos sind?
Hören sie und erscheinen,
wenn wir im Zwielicht
unter den Decken nackt
zwischen Träumen und Wachen
verwundbarer sind als am Tag?

Glaube doch nicht, dass sich Furcht,
wenn ihr ein Gefäß bricht,
nicht ein nächstes erfindet,
aus dem sie uns anspringen kann.
Dämmerung: In dieser farblosen Stunde
stürmte das Grauen ins Haus.

Eine Bö riss den Vorhang vom Fenster.
Der schwebte gebauscht durch den Raum und
wölbte sich sanft als Kutte
um einen vage erahnbaren Leib.

Ich habe den Boten gerufen, nicht wahr?
Den Rücken gleich Zweigen von Weiden gewölbt
setzt er sich zu mir aufs Bett,
doch ich höre und sehe kein Atmen.

Weiter im Osten ist es schon Tag.
Die Ernte wird eingebracht.
Ishmael brennt sich durch Orte und Felder,
reckt rot seine Hände zum Himmel
und füllt sich die Taschen mit Seelen.

In Boston der Campus glimmt warm
in den Farben des Indian Summer.
Durch Berlin defilieren jubilierende Scharen.
Sie tragen St.-Patricks-Grün.

Heute ist niemand gestorben.
Wir feiern ein Fest.
Lärmend spielen die Kinder im Hof,
und der Rauch steigt vom Barbecue auf.

Ich habe dich, Abu Daoud,
in deiner Nacktheit gesehen.

Decke mir doch meine Scham nicht auf!
Jätet man, packt man das Kraut an der Wurzel.
Väter und Mütter und Kinder,
fünfzig für einen, hundert für einen,
Baal auf die glühende Zunge geworfene Gaben
in diesem Land, das sich seinen Bewohnern nur
leiht und sie ausspeit,
wenn sie ihm Leid sind und Last,
ihre Kinder wie meine.

Du warst es, der mich gerufen hat.

Zeig mir den Film vom Ende zum Anfang:
wie das Haus aus den Schuttbergen aufsteht,
wie das Korn auf den Feldern sich reckt in die Flammen,
wie eine Detonation das Feuer mit einem Schlag ausbläst,
wie Wunden sich schließen,
wie Projektile, Granaten, Raketen
landen auf Rampen, in Mörsern, Gewehren,
wie Jungen die Waffen in Tunneln begraben,
wie wir, den Rücken voran,
nach Teheran, Tripoli, Baghdad, Aleppo,
Zug um Zug in die Städte Europas,
zu Schiff von Fès nach Granada,
zu Fuß nach Madjdal und Haifa,
Jaffa und Ramla, Akka, Zefat und Al-Ludd

heimkehren, heimkehren,
immerfort heimkehren –
bis endlich auch die vertriebene Frau
mit ihrem Kind aus der Wüste zurückkehrt
und wir im Schatten des Zeltes spielen,
von unseren Müttern und unserem Vater
gleichermaßen geliebt.

Heimat, Exil – das sind Worte, die schmecken
und riechen nach bitterer Mandel.
Heimkehr ist immer auch
Abschied von anderswo.

Exiled for ever, let me mourn.

Geh jetzt! sage ich.

Nein,

sagt der Engel:

Ich bleibe.

Werde ich dich also aushalten müssen
wie den verschobenen Wirbel im Rücken,
den ein Osteopath wieder einrenken kann?
Müsste ich nur
die Haltung ein wenig verändern
für einen aufrechten Gang?
Wie klingt denn ein Herz,
wenn es zurechtgerückt wird?

Im Kino gewesen. Geweint.

Heute ist über uns alles gesagt.
Das Urteil ist längst gesprochen.
Mit dem verlorenen Land im Rücken
hat unser Suchen kein Ende.

Ishmael, Ishmael, wie
soll ich in dir noch den Bruder erkennen,
vor den mit Laken verhängten Spiegeln,
in deinen Kindern die Nichten und Neffen,
in staubigen Wüsten das Land,
das uns liebte, wie wir den Vater,
den Fehlbaren, liebten?
Nicht mal zu trauern gelingt uns gemeinsam.

Aber am Tauentzien:
Homöopathen für Katzen und Hunde.

Heinrich, hör …

Welch ein Komfort, am Strand
Sand durch die Finger rieseln zu lassen
am Zufluchtsort in der Algarve
oder auf künstlichen Inseln im Golf,
statt Staub in den Fäusten zu halten.
Schämst du dich nicht deiner Klage?

O strive not to be excellent in woe …

sagte der Engel am Ende der Stunde.

5

Ewigkeit ist eine Qual ohne den Trost des Vergessens.
Was erhoffen wir da vom Beistand der Engel?
Sie kommen zu uns, als wären sie Gäste, doch
wir sind die Gäste, und sie sind das Haus.
Wir wissen, sie bleiben. Und sie wissen: Wir bleiben nicht.
Kein Zweifeln, kein Zögern, nur Zweck.
Nicht werden, nicht enden, nur sein.
Sie stehen fest. Wir schwanken.
Kein Wunder, dass sie uns meiden.

Ich will einen Djinn bewohnen.

Dann bin ich Al-Hāris, der Pflüger
und reiße mit Eisen die fruchtbare Furche.

Ich fuhr im versiegelten Zug von Singen nach Saßnitz,
im Koffer den Plan für die Revolution.
Trelleborg, Tornio, Wyborg, St. Peter –
ein Schritt nur im Finnischen Bahnhof
vom Gestern ins Morgen hinab auf die Plattform.
Genossen trugen den Koffer zum Smolny.
Aurora rief nachts auf der Newa zum Sturm.

Ich zog mich zurück in die Berge Montanas,
auf vierzehn mal zehn Fuß im Wald.
Statt Harvard und Berkeley ein Bretterverschlag,
Schluchten und Klippen, ein Wasserfall.
Dort schrieb ich in Chiffren Journale.
Nägel und Müll sandte ich euch
in Bombenpaketen per Post.
Mein Manifest in der Washington Post – was für ein Aufstieg:
Die aus der Wildnis entwurzelte Hütte flog auf.
Ein Hubschrauber brachte, schwebend an Gurten,
den Freedom Club nach Sacramento.

Ich schlachtete Sharon samt Baby am nächtlichen Pool.
Mit eintausendfünfhundert Schuss Munition landete ich auf Utøya.
Stürmte im Blutrausch schießend Moscheen.
Schnitt mit dem Messer vor Kameras Kuffar die Köpfe ab.
Kalt und entschlossen, nur keine Klage!

Graut dir noch immer nicht?

Sind Engel denn weniger grausam?
Erinnerung, Traum, eine Hoffnung, Gewohnheit –
etwas muss sterben,
wenn einer von ihnen sich zeigt,
die ohne Willen und Lust in unser Leben treten
mit der Beschwichtigung: Fürchte dich nicht!
Dabei wissen sie doch, dass geschieht,
was zu verkünden sie kamen.
Weil sie uns kennen!
Nur wir glauben noch, unter Möglichem
hätten wir nicht schon gewählt.

Nenne mich Raphael!
Ich kann dir sein, was du brauchst.

Ich säe mit Gleichmut Vergeben in Hāris' blutige Furche.
Berge unter Beschuss Verwundete aus Sarajevo –
in Purpur vereint: Halbmond und Kreuz.
Harre aus vor dem Panzer am Tian’anmen.
Stelle Schutzpässe aus in der Stadt an der Donau.
Halte Petrov zurück, als er sieht, dass Raketen sich nähern.
Ich reiche Jan Palach das Streichholz am Wenzel
und brenne mit Quảng in Saigon im Schatten der alten Pagode.

Ihr findet doch alle den gleichen Tod
auf unzähligen Wegen des Sterbens!

Was willst du noch unter den Tauben?
Aufschreien, Zornschnauben, Funkenflug,
wo Tausende fallen, die Götter
verraten und stoisch
den Felsblock den Berg hinaufrollen?

Den Fährmann zahlt niemand mit Liebe.

Dann schon als letzter der fahrenden Ritter,
gewappnet mit Lanze und Mut
und einem Engel als Knappen,
ausziehen auf einem Djinn.

6

Ich ritt auf dem Djinn in die Wüste
weit ab von Straßen und Pisten.
Hier schleift sich Sand im beständigen Gleiten
so fein, dass er singt,
wenn der Wind ihn die Dünen hinabtreibt.
Spuren verwischen sich binnen Minuten.
Der Engel folgt uns mit Abstand.

Al-Hāris hält an bei Khor Al Adeyd,
wo die Wüste aufs Innere Meer trifft.
Mal Bucht, mal Lagune, nach Stand der Gezeiten,
gibt es sich sanft. Ölig und träg
schwappen die Wellen ans Ufer.
Die Luft flimmert trocken.
Ich darf, was ich sehe,
nicht glauben zur heißesten Stunde,
wenn mir der eigene Mittagsschatten
gerade noch über die Zehen reicht.

Al-Hāris wäscht sich die Füße.
Raphael schirmt mit der Linken
die Augen und blickt in die Ferne.
Da schimmert es weiß. Ein Mann kniet im Thawb.
Er beugt sich nach vorn und legt beim Sujúd
Hände und Stirn auf den Sand.

Mein Schatten ist gänzlich verschwunden.
Raphael winkt, ich solle dem Pilger folgen.
Der ordnet gelassen das Tuch auf dem Kopf – und geht.
Ich aber habe mich aufgelöst, als wäre ich nur noch
ein schwebender Geist und folgte in ihm mir selbst,
in der Hand die Sandalen, barfuß durchs Wasser am Ufer.

Raphael pfeift in die Stille. Ich soll mich beeilen.
Tatsächlich kann ich mich nähern, von hinten
und hätte mich beinah besessen.
Doch der, dem ich folgte, sinkt in sich zusammen
ins Bild eines hockenden Jungen.
Der fährt mit der Hand durch den silbrigen Sand,
wendet den Kopf und zeigt mir
von unten herauf sein Gesicht.

Baba?

fragt er. – Al-Hāris lacht.
Ich falle und sinke ins Meer.

7

Raphael zieht mich heraus aus dem Wasser,
aufs Deck einer Perlfischer-Dau.
Über uns kreisen noch Möwen.
Da wäre Land, wenn wir wendeten.
Wir aber schauen nach vorn.

Noch immer führt uns das Abendlicht heim.
Nur hängt das Segel schlapp in der Flaute.
Träge und dürr liegt der Neumond
nahe der Sonne im Westen.
Er ist sehr blass. Sie will anderswo leuchten,
steigt eilig hinab und legt einen Lichtsteg aufs Wasser,
der sich verkürzt und von uns entfernt,
je länger wir unbewegt warten.

Das Meer ist zu groß …

Al-Hāris bläst. Da flappen die Segel am Mast.
Wir sind auf dem Weg in die Finsternis.
Planken und Wanten ächzen.

Wenn es düsterer wird und die Mondsichel aufsteht,
sind wir auf Kurs Nord-Nord-West
nahe den kälteren Sphären.

Die sechste,

sagt Raphael,

ist der gekrönte, glorreiche, freudvolle Thron.
Die kommende Welt, ein Ort in Weisheit.

Von wegen!

Da ist kein Thron, nur das flache Dach
der Mietskaserne in Pankow.
Schneematsch auf Dachpappe.
Dort steht die Freundin,
den Rücken zur Schlucht auf der Brüstung.
Ich halte Kinder an meinen Händen:
ihre Tochter und meine.

Al-Hāris hat uns ins Gestern gestellt
und hält sich versteckt
in einer Nische beim Schornstein.
Die Kinder kennen den Djinn noch nicht.
Er möchte sie ungern erschrecken.

Uns führt von einem Beginn
nur ein Weg zu nur einem Ende.
Der Djinn stand bei ihr, als sie sprang.
Sag einer Fackel, sie soll nicht mehr brennen,
eher verlöschen auf nasskaltem Stein.
Wir waren fern. Kein Engel, kein Freund in der Nähe.

Das sollten die Kinder nicht wissen?



Ich wechsle vom Schiff auf das heimische Sofa.
Der Wein geht mal wieder zur Neige.
Mein Junge spielt auf dem Saxophon
in Moll eine finnische Weise.

Über den Berg ist mein Liebster gezogen,
weit übers Meer ist mein Falke geflogen …

Hör doch, Ahúw:
Bevor du geboren warst,
lief ich mit deiner Mutter
durch eine andere Wüste.
Meerzwiebeln, Gräser und Feigenkakteen
färben die Negev grün
im levantinischen Winter.
Dazwischen leuchtete scharlachrot
eine Schar von Kron-Anemonen.

Bevor du nach Gaza kommst, links halten!

schrieb ich der Freundin damals,
als sie im Wagen euphorisch
zur Hochzeit in unsere Richtung fuhr.

Immer links halten!

schrieb sie zurück.
Da brannte die Fackel noch
wie in der Negev,
bevor sie die Hitze versengt,
die trotzigen roten Blumen.

Even amidst fierce flames
can the golden lotus be planted.

Das Saxophon schweigt. Meinem Kind
hockt der Djinn in den Augen.

Mir geht dieses Sterben
bei Rotwein und Rauchen zu schnell.
»Ich habe noch nicht zu Ende getanzt.«
Waren das nicht deine Worte?

Vielleicht kann ich doch die eigene Sprache
wieder erlernen und üben.
Und die der andern und Welten entdecken,
luftwurzeln anderswo.

Noch einmal staunen und träumen und fliegen
als Turmsegler, Möwe und Falke.
Herzen mit tausenden Armen und singen,
womöglich das Feuer berühren.
Im Schmerz wird uns klar, dass wir leben.

Und die Kinder?

Sie tragen die Wüste in sich wie wir,
das Wort, den Zweifel, die Anemonen –
Gleichmut, Vergeben und Trost des Engels
und die verzehrende Kraft des Djinns.

Die Reise ist lang und beschwerlich.

Hear, hear Die Reise ist lang.

* * *



Berlin / Doha / Aljezur
März 2023 – Juni 2025

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